Architekten brauchen Herausforderungen: Der Beste seiner Zunft ist oft, wer den meisten Beschränkungen unterliegt. Bittet man sie, ein ideales Haus zu entwerfen, weisen sie diese Ansage als zu unpräzise zurück.
Denn ihr Handwerk ist keine freie Kunst, auch wenn manche aus der Zunft der Häuserplaner sich nach außen gern so gerieren. Vom Pritzkerpreisträger Renzo Piano, einem der bekanntesten zeitgenössischen Architekten, weiß man, dass er Anfang der 90er-Jahre auf der Brache des Potsdamer Platzes herumspazierte und in der Leere dort geradezu verzweifelt nach Begrenzung, nach Maßstab und Inspiration suchte.
Er fand sie schließlich in dem Weinhaus Huth, dem einzigen Gebäude auf weiter Flur, sowie in den Straßenbäumen – und entwickelte daraus einen Masterplan für das gesamte Gelände. Führt man diesen Gedanken weiter, dann ist jener der beste Architekt, der den meisten Beschränkungen unterliegt.
Also derjenige, der kleine Häuser auf schwierigen Grundstücken baut: Hier steht er vor jenen Herausforderungen, die Großes im Kleinformat ermöglichen. Lesen Sie auch Advertorial Immobilienbewertung Den Wert Ihrer Immobilie einfach online berechnen
Man stelle sich dazu etwa ein 2,30 Meter breites und beidseitig von Brandmauern begrenztes Grundstück vor, auf dem eine vierköpfige Familie ihr neues Zuhause bauen möchte. Als klinge das allein nicht schon abenteuerlich genug, steht auf dem Grundstück auch noch ein historisches Haus, das nur 52 Quadratmeter Nutzfläche hat und denkmalgeschützt ist.
Die jungen Londoner Architekten Chris Bryant, Caspar Rodgers und Tristan Wigfall, die sich zusammen alma-nac nennen, suchten den geforderten Platz dort, wo sie ihn finden konnten, nämlich im Garten. Oben setzten sie zwei Stockwerke so auf, dass sie zur Straße zurückgesetzt sind, die historische Fassade blieb in ihrem Gesamtbild unangetastet.
Gewonnen wurden auf diese Weise 46 Quadratmeter neue Wohnfläche – fertig war das „Slim House“. Vom Dachfirst aus zogen die drei nun eine lange Dachschräge in den Garten hinein und versahen sie mit großzügigen Fenstern. Um im Inneren den immer noch nur 2,30 Meter breiten Räumen mehr gefühlte Weite zu geben, ersannen sie zusätzlich einen Kniff, den man in der Architektur selten gesehen hat und der sich erst in einer isometrischen Darstellung des Hauses voll erschließt.
Der Clou dieser Konstruktion ist nicht nur, dass das Bett dadurch von der Dachschräge abrückt und relativ luftig im engen Raum steht. Sondern dass der Raum unter der Fensterschräge nicht – wie es zuerst den Anschein hat – verloren geht. Doch nicht immer müssen es so ausgefuchste Maßnahmen wie in London sein, um auf engem Raum optische Weite zu gewinnen.
Naheliegendere Maßnahmen listet Einfamilienhausexpertin Bettina Hintze in ihrem neuen Buch „Kleine Häuser, Große Wohnarchitektur“ auf: durchgängige Sichtachsen, über Ecken laufende Fenster, deckenhohe Glasfronten. Auch Farbe und Material können helfen: Helle Decken und Wände oder sogar Spiegelflächen reflektieren das Licht und lassen Räume größer erscheinen.
Das Abhaken einer Checkliste kann ihr Entwurf trotzdem nicht gewesen sein, denn die Aufgabe bestand darin, in einem dicht bebauten Stadtgebiet ein Wohnhaus für zwei Personen mit Büro zu errichten. Unten Büro, darüber Kochen und Wohnen, oben Schlafen und dann noch eine Dachterrasse – das ist die Grundordnung. Aber wie den Raum organisieren, dass trotz der objektiven Enge der Eindruck von Weite und Komfort entsteht? Die darüber liegenden Schlafräume müssen dafür wiederum Platz abgeben, erhalten als Ausgleich aber seitliches Licht.
Es fällt durch das zusätzliche Außenfenster sowie durch Innenfenster, die die Räume gegen den Wohnraum akustisch abschirmen. Die besteht aus Stahlgitter, sodass von einem Dachfenster her das Licht auch auf die darunter liegende, ansonsten fensterlose Treppe fällt.
Das ebenfalls innen liegende Bad bekam ein Oberlicht, dessen Zargen gelb gestrichen wurden.
Der Bauherr Thomas Finckh erkannte trotzdem dessen Potenzial: „Wir haben uns sofort in diesen Ort verliebt und wollten hier leben“, berichtet er.
„Die Herausforderung war es, die maximal zulässige äußere Gebäudebreite von 4,70 Metern so umzusetzen, dass es im Innern großzügig, offen und hell wirkt.“ Thomas Finckh, der Leser ahnt es, ist Architekt und fand in der Bauaufgabe den nötigen Schwierigkeitsgrad, um seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.
